"Der internationale Druck hat viel bewirkt."
Bericht über eine Delegationsreise u.a. mit Anton Vaas, dem Vorstand der Aktion Hoffnung Rottenburg-Stuttgart e.V. nach Bangladesch (01. - 07. September 2018)
Der Hintergrund:
Die Aktion Hoffnung ist bereits seit einigen Jahren im Bildungsbereich zum Thema „Produktionsbedingungen in der Textilindustrie“ aktiv. So wurden schon zahlreiche Vorträge bei unterschiedlichen Partnern und Einrichtungen abgehalten. Auch die jährlich stattfindende entwicklungspolitische Gesprächsreihe des Vereins beschäftigt sich an jeweils einem Abend mit der kompletten textilen Kette. Die Auseinandersetzung mit den Fragestellungen rund um Produktion ist der Überzeugung der Aktion Hoffnung geschuldet, dass nur die Betrachtung eines Teils der textilen Kette - also Produktion oder Konsum oder Verwertung - zwangsläufig einseitig ist und der Komplexität im Umgang mit Textilien nicht gerecht wird. Ziel einer ganzheitlichen Betrachtung ist es, ein Bewusstsein für den Kreislauf der Textilien zu schaffen und auf die mannigfaltigen sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen im Umgang mit Kleidung hinzuweisen.
Da alle Informationen rund um die Produktionsbedingungen bis dato von Dritten stammten, hat der Vorstand der Aktion Hoffnung die Chance genutzt, eine Delegation aus Baden-Württemberg nach Bangladesch zu begleiten, um sich vor Ort ein Bild zu verschaffen.
Die Delegation bestand aus folgenden TeilnehmerInnen: Ein Lehrer sowie drei SchülerInnen des Friedrich-von-Alberti Gymnasiums in Bad Friedrichshall (FvAG), die Inhaberin eines Kleiderhandels für Berufskleidung (Roland Bopp GmbH), dem Gründer sowie einem Mitarbeiter des Stuttgarter Modelabels GREENALITY, dem Vorstand und einer Mitarbeiterin der Stiftung Entwicklungszusammenarbeit des Landes Baden-Württemberg (SEZ), einem Filmteam von imagis.tv sowie dem Vorstand der Aktion Hoffnung.
Initiator der Delegationsreise war der Lehrer Herr Axel Schütz, der mit seinen SchülerInnen vor rund einem Jahr eine Schülerfirma (#changemaker) gegründet hat und über die Inhaberin des Kleiderhandels zunächst 1.000 fair produzierte Kleidungsstücke in Bangladesch fertigen ließ. Um sich vor Ort ein Bild von den Produktionsbedingungen der #changemaker Shirts machen zu können, entstand die Idee der Reise.
Die Reise:
Der sehr eng getaktete Aufenthalt beinhaltete den Besuch mehrerer Textilfabriken sowie eines Garnherstellers; den Austausch mit einer Partnerschule des FvAG, in der sozial benachteiligte Kinder der pakistanischen Minderheit unterrichtet werden; Gespräche mit einer NGO, die im ländlichen Raum ein alternatives Bildungskonzept verfolgt; Diskussionen mit Gewerkschaften und der UNICEF sowie die Begleitung der Caritas Bangladesch in verschiedene Day Care Centers, in denen Kinder von Eltern, die in Textilfabriken arbeiten, betreut werden.
Die Unterschiedlichkeit der Gesprächspartner/-innen und deren spezifischen Perspektiven sowie der Austausch innerhalb der sehr heterogen zusammengesetzten Gruppe haben dazu geführt, dass die Teilnehmer/-innen der Delegation einen Ausschnitt der Realität mitbekommen haben, der sicher nicht vollständig zu verallgemeinern ist, aber doch wertvolle Einblicke in den Alltag der bengalischen Textilarbeiter/-innen gebracht hat.
Die Erkenntnisse:
Zentrale Erkenntnisse der Reise - vor allem für den exportorientierten Bereich der Textilbranche - sind aus Sicht des Aktion Hoffnung Vorstands:
- Die Produktionsbedingungen in der Textilindustrie haben sich in den vergangenen Jahren stark verbessert. Nach Aussage der verschiedenen Gesprächspartner hat sich die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit auf rund zehn bis maximal zwölf Stunden pro Tag bei einer 6-Tage-Woche verringert. Überstunden sind nach wie vor die Regel, um ein Lohnniveau zu erreichen, dass zum (Über-)Leben reicht. Alle Beteiligten waren sich einig, dass der Mindestlohn von 5.300,- Taka (rund 53,- €) nicht dauerhaft für ein Überleben reichen würde. Durch Überstunden kann aber wohl ein durchschnittlicher Monatslohn von 75,- bis 120,- € erzielt werden.
- Die Sicherheitsstandards, vor allem aber deren Überprüfung und Einhaltung, werden seit dem Einsturz des Rana Plaza Komplexes mit über 1.000 Todesopfern im April 2013 deutlich strenger überwacht.
- Kinderarbeit ist in dem exportorientieren Teil des Textilsektors de facto überhaupt nicht mehr zu beobachten. Das bedeutet nicht, dass es in Bangladesch keine Kinderarbeit mehr gibt, sie scheint sich aber tendenziell in den informellen Sektor verlagert zu haben.
- Die Verbesserungen in sämtlichen Bereichen des Sektors sind nach übereinstimmender Auskunft primär dem großen internationalen Druck und der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema geschuldet.
- Die Textilindustrie hat nach Aussagen von UNICEF das Potential, zu einem Katalysator einer gesamtwirtschaftlich positiven Entwicklung Bangladeschs zu werden. Schon heute ist in der Branche ein Lohnniveau erreicht, das dazu führt, dass zunehmend auch Männer in den Fabriken arbeiten. Lag der Anteil der Frauen an den in der Textilindustrie tätigen Menschen vor wenigen Jahren noch bei 80%, ist dieser Anteil mittlerweile auf rund 60% gesunken. Um allerdings Ungleichgewichte zu vermeiden, wird es zunehmend wichtig, die positiven ökonomischen Entwicklungen im Textilbereich nicht komplett von der sonstigen ökonomischen Entwicklung des Landes zu entkoppeln. Dies könnte mittelfristig zu Wohlstandsinseln und sozialen Spannungen führen.
- Die Automatisierung hält zunehmend auch im Textilsektor Einzug. Die Auswirkungen sind laut UNICEF noch nicht einzuschätzen. Allerdings ist schon heute zu beobachten, dass sich die Wachstumsraten bei der Beschäftigungsquote von den Wachstumsraten der Branche insgesamt entkoppelt haben.
- Die verhältnismäßig guten Arbeitsbedingungen in der exportorientierten Textilindustrie werden auch positive Auswirkungen auf die lokale Textilindustrie haben (Trickle-Down-Effekt).
- Gewerkschaften und Unternehmer stehen sich in Bangladesch unversöhnlich gegenüber. Das beiderseitige Verhältnis ist von einem tiefen Misstrauen geprägt. Überspitzt dargestellt, haben Unternehmen Angst, dass Gewerkschaften in den Betrieben Unruhe stiften. Gewerkschaften hingegen sehen ihre Forderungen nur unzureichend umgesetzt.
- Textilfabriken mit mindestens 40 Beschäftigten müssen zwingend eine Kinderbetreuung anbieten. Dieses Angebot wird von den Beschäftigten allerdings kaum genutzt. Über die Gründe herrscht Uneinigkeit. Auch im Bereich des Mutterschutzes gibt es schon grundlegende Standards. So gibt es wohl unter Lohnfortzahlung einen achtwöchigen Mutterschutz. Laut Aussage von UNICEF kehren aber die wenigsten Frauen nach der Geburt eines Kindes und Ende des Mutterschutzes in die alte Textilfabrik zurück, sondern suchen sich neue Arbeitsplätze. Dies ist allem Anschein nach darauf zurückzuführen, dass nur wenige Frauen kurz nach der Geburt wieder zur Arbeit zurückkehren.
Allen Teilnehmer/-innen der Reisegruppe ist bewusst, dass sie trotz der vielen Gespräche und Besichtigungen nur einen kleinen Ausschnitt der Realität gesehen haben. Auch bleiben viele Fragen offen. Insgesamt scheint der Textilsektor in Bangladesch aber auf einem guten Weg zu sein. Drastische Verstöße gegen geltende Arbeits- und Sicherheitsstandards sind wohl zunehmend eher die Ausnahme als die Regel. Keine aussagekräftigen Erkenntnisse gibt es hingegen zur Be- oder Missachtung von Umweltstandards. In jedem Fall gilt es, die (internationale) Aufmerksamkeit und den öffentlichen Druck aufrechtzuerhalten, denn dies scheint in den vergangenen Jahren der wirksamste Faktor für positive Veränderungen gewesen zu sein.